Ergonomie im Entwicklungsprojekt


Software-Ergonomie und Software-Engineering

Leider ist Software-Engineering kein Begriff, für den es eine weitgehend anerkannte Definition gibt (vgl. die Diskussion im Informatik Spektrum, Band 16, Heft 5, Oktober 1993). Dennoch erscheint es nützlich, im Hinblick auf das folgende Kapitel etwas über das Verhältnis von Software-Engineering zu Software-Ergonomie zu sagen. Beschränken wir uns dafür auf eine häufiger anzutreffende Definition von Software-Engineering, die versucht, ingenieurmäßiges Vorgehen auf den Entstehungsprozeß von Software anzuwenden. Danach ist Software-Engineering das systematische und planmäßige Vorgehen bei der Entwicklung, der Anwendung und der Wartung von Programmen, um gegebene Ziele im begrenzten Zeit- und Kostenrahmen zu erreichen. In diesem Sinne ist Software-Ergonomie damit beschäftigt, die genannten Ziele in Bezug auf die psychologischen, arbeitspsychologischen und soziologischen Anforderungen des Benutzers zu definieren und die Befriedigung dieser benutzerspezifischen Anforderungen während der Entwicklung, Anwendung und Wartung der Programme zu gewährleisten. Wir sehen Software-Ergonomie hier also in einer sehr engen Beziehung zu Software-Engineering.

Ergonomie im Phasenplan

Es ist üblich, zumindest in größeren Projekten, den Projektablauf in Phasen von der Studienphase bis zur Auslieferung an die Kunden und zur Verifikation der Spezifikationserfüllung beim Anwender aufzuteilen. Wenn diese Phasen in einer Richtung ohne Möglichkeit der Rückkopplung in zurückliegende Entwicklungsschritte durchgeführt werden, spricht man vom Modell des Wasserfalls, bei dem das Wasser ebenfalls nur von einer Stufe zur anderen fällt. Bei einem Projektablauf nach dem Wasserfallmodell ist es nicht möglich, Spezifikationen oder Implementationen auf Grund von Erkenntnissen zu ändern, die erst während des Projektes verfügbar werden. Er ist zu starr, um sicherzustellen, daß ein Produkt entsteht, das zum Zeitpunkt der Auslieferung den Ansprüchen des Kunden, dem Stand der Technik und der Situation auf dem Markt entspricht. Projektpläne, die mehrere Zyklen durchlaufen und sich damit flexibler den veränderlichen Anforderungen an das Produkt anpassen könne, sind deshalb vorzuziehen.

Diese Gesichtspunkte sind ganz besonders aus ergonomischer Sicht wichtig, denn die Benutzeranforderungen wird man kaum in einem Fall zur Zeit der Studienphase so vollständig und genau erfassen können, daß die daraus entstehenden Spezifikationen während der gesamten Projektdauer unverändert Bestand haben werden. Insbesondere wird eine unbedingt anzustrebende Zusammenarbeit mit dem künftigen Anwender sowohl zu einer genaueren Kenntnis der Benutzeranforderungen beim Entwickler wie zu einer Veränderung der Anforderungen des Anwenders führen. Eine starre Projektführung, die eine Beeinflussung des Produktes durch dieses dynamische Verhältnis zwischen Entwickler und Anwender nur ungenügend zuläßt, kann nicht zu einem optimierten Produkt mit bester Akzeptanz beim Anwender führen.

Während des Projektablaufs ist ständig Gelegenheit, eine Vielfalt von Methoden anzuwenden, um neue Informationen zu gewinnen und die Zwischenprodukte der Entwicklung wie Spezifikationen, Entwürfe, Module von Hardware, Software, Dokumentationen und Handbüchern zu überprüfen. Die Beobachtungen, Befragungen, Inspektionen, Tests und Versuche geben dabei reichlich Anlaß, Benutzer selbst in den Entwicklungsprozeß einzubinden.

Diese Arbeiten erfordern einen nicht unerheblichen Aufwand und müssen gründlich zu Beginn der Entwicklung geplant und im Gesamtablauf berücksichtigt werden. Nur auf der Basis einer solchen Planung und der sich in ihr ausdrückenden Übereinstimmung innerhalb des Entwicklungsteams ist es möglich, die ergonomischen Arbeiten in den Projektablauf zu integrieren und Akzeptanz und Unterstützung im ganzen Team zu finden.

Methoden ergonomischer Untersuchungen

Methoden der Inspektion wie Walkthrough und Peer Review sind aus dem Software Engineering bekannt und können für die Belange der Software-Ergonomie ebenso zu einem frühen Zeitpunkt eingesetzt werden, wenn die Teilnehmer gute Kenntnisse von den Benutzern haben oder selbst Benutzer sind.

Besondere Bedeutung haben aus ergonomischer Sicht Feldbeobachtungen und Benutzerbefragungen, weil sie sich direkt mit der Situation des Anwenders in seiner Arbeitsumgebung und seiner spezifischen Erfahrung befassen. Sie erlauben, Informationen zu gewinnen, die aus dem Stand der Technik oder der Entwicklungserfahrung alleine nicht zu erhalten sind.

Häufig gibt es Designalternativen zwischen denen ohne Beteiligung der Benutzer nicht zu entscheiden ist. Versuche mit Benutzern gestatten dann zu klären, welche der Möglichkeiten den Anforderungen der Benutzer am besten entsprechen. Auf diese Weise sind von der wissenschaftlichen Ergonomie viel Detailfragen untersucht worden, z.B. über Größe und Anordnung von Bildsymbolen und ihre Erkennbarkeit. In einem anderen Beispiel dienten ergonomische Untersuchungen mit Benutzerversuchen dazu, die Frage zu entscheiden, ob Hilfesysteme den Benutzer beobachten dürften, um sich gegebenenfalls aktiv mit Vorschlägen an den Benutzer in den Arbeitsablauf einzuschalten. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen sind eingeflossen in die Gestaltung der Richtlinien und Styleguides.

Während der Produktentwicklung dienen solche Versuche besonders als Test, bei denen überprüft wird, ob das Produkt oder Teile davon schon den Spezifikationen und den Benutzererwartungen gerecht wird. Je weiter fortgeschritten die Entwicklung ist, um so mehr Teile des Produkts stehen für derartige Tests zur Verfügung. Es kommt sehr darauf an, zum frühest möglichen Zeitpunkt Testergebnisse zu erreichen, damit auf Hinweise zur Verbesserung des Produkts noch reagiert werden kann.

Die hier gemeinten Versuche und Tests beinhalten immer die Teilnahme und Beobachtung von Benutzern, also von Menschen. Sie erfordern deshalb die sehr wohlüberlegte Methodik psychologischer Experimente, um unverfälschte Ergebnisse zu erlangen. So sind z.B. Beobachtende und Beobachtete möglichst zu trennen, um zu vermeiden, daß die Erwartungen der Beobachter das Verhalten der Versuchspersonen beeinflußt Deshalb befinden sich häufig Beobachter und Versuchspersonen in getrennten Räumen, und die Beobachtung erfolgt durch Videokameras. Ergonomische Laboratorien haben entsprechende Einrichtungen. Ihr Bau und ihre Ausrüstung erfordert einen recht hohen Aufwand. Da auch eine nicht geringe Anzahl von Menschen als Versuchspersonen und als Beobachter und Versuchsleiter an solchen Versuchen und Tests beteiligt sind, sind sie unter Umständen sehr kostspielig.

Die hohen Kosten ergonomischer Versuche verbieten es in der Regel, mit sehr vielen Versuchspersonen zu arbeiten. In den Begriffen der Statistik heißt das, daß die Stichprobe aus der Population, die einmal mit dem Produkt arbeiten soll, sehr klein ist. Stellen sich jetzt Unterschiede zwischen zwei Programmversionen heraus, so ist die entscheidende Frage bei der Interpretation dieses Ergebnisses, ob es nicht auch rein zufällig zustande gekommen sein könnte. Sie ist nur bei einer gründlichen Versuchsplanung und fachgerechter statistischer Auswertung zu beantworten, die die Beherrschung moderner statistischer Methoden voraussetzt.

Ergonomische Versuche und Tests sind also recht aufwendig. Trotzdem lohnen sie sich in den meisten Fällen, wenn sie sorgfältig geplant sind, weil dadurch Fehler in der Benutzbarkeit des Produkts frühzeitig behoben werden können und so nicht zur Ursache von sehr kostspieligen Terminverschiebungen der Markteinführung oder von Fehlerkorrekturen nach der Produktauslieferung werden können.

Es besteht aber sichtlich ein dringendes Bedürfnis nach einer einfacheren Weise, die ergonomischen Eigenschaften eines Softwareprodukts frühzeitig zu bestimmen. Dafür sind verschiedene analytische Methoden erdacht worden. In einer Gruppe von Verfahren werden die Handlungen der Benutzer nachgebildet und bewertet. Beim Keystroke Level Model werden vor allem die Tastenanschläge des Benutzers für eine bestimmte Aktion aufgeschrieben und bewertet. Daraus läßt sich für nicht zu umfangreiche Handlungen die Zeit für ihre Durchführung abschätzen. Bei GOMS (Goals - Operations - Methods - Selection Rules) und seinen Abkömmlingen werden die Handlungen in Form von programmähnlichen Regeln aufgeschrieben, so daß die Zahl der benötigten Regeln ein Maß für den vom Benutzer zu erbringenden Aufwand ergibt. Eine andere Gruppe von Methoden dient der Erfassung und Bewertung von ergonomischen Eigenschaften von Softwaresystemen im Zusammenhang mit den arbeitsorganisatorischen Gegebenheiten, wozu Keystroke Level Model oder GOMS nicht in der Lage sind. Ein Beispiel eines solchen Evaluationsleitfadens ist EVADIS. Durch Benutzerbefragung, Arbeitsanalyse und die Anwendung eines Leitfadens sollen sowohl die ergonomische, ganzheitliche Qualität der Arbeitsaufgaben wie auch die ergonomische Qualität und Funktionalität der Software beurteilt werden.

Leider sind die analytischen Methoden trotz der Entwicklung unterstützender Programme nicht besonders einfach zu handhaben. Wegen dieses Aufwands an Expertise, Zeit und Geld scheinen sie bisher nicht die wünschenswerte weite Anwendung gefunden zu haben.